Shafak, Elif: Unerhörte Stimmen

Kein & Aber Verlag, 422 Seiten, CHF 32.00

ISBN 978-3-0369-5790-6

Die Prostituierte Leila, 43-jährig, liegt ermordet in einem Kehrichtcontainer – sie hat ihr physisches Leben ausgehaucht. Die Hirntätigkeit aber ist noch nicht ausgesetzt. Gemäss einer Studie ist das menschliche Gehirn nach dem letzten Atemzug für weitere 10 Minuten und 38 Sekunden aktiv. Und das nutzt die türkische Autorin Elif Shafak (47), um das Leben von Tequila Leila nochmals aufzurollen. Jedes Kapitel deckt eine Minute von Leilas letzter Zeit ab. Da ist die schwere Kindheit unter der Fuchtel ihres religiös verblendeten Vaters und ihres Onkels, der sie vergewaltigt, ohne dass jemand eingreift, um sie zu schützen. Da ist ihr Ausbrauch von zuhause in die nächste Misere, die «Strasse der Bordelle“». Da ist aber auch eine grosse tragische Liebe. Und eine wunderschöne Freundschaft mit fünf Gestalten aus dem Abseits der Gesellschaft. Diese Fünf versuchen die Ermordete vom Friedhof der Geächteten wegzubringen, um ihr ein würdiges Grab zu ermöglichen.

Elif Shafak, kritisch gegenüber den Instanzen der Türkei und dessen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, erzählt in «Unerhörte Stimmen» vom Rande her und hält ihrem Land, das sie liebt, aber aus Sicherheitsgründen nicht mehr besuchen kann und will, den Spiegel vor.

Die Autorin hat einen sehr betörenden, poetischen und berührenden Schreibstil, um das Leid und Elend der Menschen am Rande der türkischen Gesellschaft zu schildern. Das Buch ist raffiniert aufgebaut, hat Sogwirkung und schärft den Blick zugleich. Grosse Literatur.

 

Buchbesprechung von Svend Peternell